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Das kapitalistisch organisierte Wirtschaftsleben ist reich an Wechselfällen. Rege Geschäftstätigkeit und Darniederliegen der Erwerbstätigkeit, ja oft schwere Erschütterungen des Wirtschaftslebens wechseln im bunten, kaleidoskopartigen Bilde. Wenigstens für die am Anfang ihrer Aufgabe stehende Volkswirtschaftslehre, welche sich mühsam zur Erkenntnis der Grundzusammenhänge der Volkswirtschaft emporrang und in ihrem Drange nach Erforschung derselben statisch, d. h. nicht auf die Bewegungserscheinungen orientiert war, hatte es lange den Anschein, dass zeitweise, ohne jede Vorbereitung Störungen im Wirtschaftsleben auftreten, welche dasselbe von Zeit zu Zeit schwer erschüttern. Worauf diese Erschütterungen, Krisen genannt, zurückzuführen sind, war jene Frage, welche bald, nachdem die Grundlagen unserer Wissenschaft niedergelegt waren, als das Krisenproblem auftauchte.
Lange Zeit hindurch stand dieses Problem sozusagen anorganisch in der Volkswirtschaftslehre. Nicht als ob es nicht versucht worden wäre, die krisenartigen Störungen des Wirtschaftslebens aus den Kräften der Wirtschaft zu erklären. Aber es fehlte die wirkliche Perspektive, das Krisenproblem in unsere Wissenschaft organisch einzugliedern, weil die Wissenschaft auf eine statische Anschauungsweise eingestellt war und das Verhältnis der Wirtschaftskräfte zueinander als etwas Bleibendes, das Verhältnis der Grunddaten des Wirtschaftslebens als etwas Unabänderliches, Gegebenes betrachtete. Nur langsam wird bemerkt, dass auch dieses Grundverhältnis nicht unveränderlich ist und dass die Verschiebung in den Grunddaten der Volkswirtschaft etwas Natürliches, aber auch eine in höchstem Maße beachtenswerte Seite der kapitalistischen Wirtschaft ist und nur die Beachtung der unablässig vor sich gehenden Verschiebungen ein wahrheitsgetreues Bild der Volkswirtschaft vermitteln kann. So entsteht das Problem der Dynamik, der Bewegungserscheinungen in der Volkswirtschaftslehre. Das Verhältnis von Erzeugung und Verbrauch, von Kapitalbildung und Kapitalanlage wird nun in seinen Verschiebungen und Veränderungen beachtet und davon ausgegangen, dass diese Bewegung selbst etwas Wesentliches im Wirtschaftsleben ist.
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Diese neue Perspektive, die dynamische Betrachtung des Wirtschaftslebens ließ nun langsam eine starke Ausweitung des ursprünglich isoliert dastehenden Krisenproblems eintreten. Die Krise steht nicht mehr isoliert, als eine unerwartet eintretende Störung des Wirtschaftslebens, sondern sie wird als ein Kettenglied im fortwährenden Aus und Ab der wechselnden Wirtschaftsbedingungen erfasst. Sie erscheint dem dynamisch geschulten Forscherauge nicht mehr als etwas, was unvermittelt kommt und vergeht, sondern als eine Phase der wirtschaftlichen Dynamik. Mit einem Wort das Krisenproblem weite sich zum Konjunkturproblem aus, dessen Wesen die Erforschung jener Gründe ist, welche das Auf- und Abwogen der marktlich orientierten Volkswirtschaft bewirken.
Ziemlich ratlos stand vor allem die klassische Theorie dem Krisenproblem gegenüber. Ihr ganzes System war auf das harmonische Zusammenwirken der Kräfte des Wirtschaftslebens aufgebaut. Eine Störung dieses Einklanges war für sie, streng genommen, nur denkbar, wenn man sich die Wirtschaftskräfte nicht frei auswirken lässt. Muss ja der freie Wettbewerb nach ihrer Auffassung den höchsten Grad der unter den gegebenen Verhältnissen erreichbaren Wohlfahrt gewährleisten.
Auf dieser Grundlage war eine Erklärung für die wiederholt beobachteten Störungen des Wirtschaftslebens schwer zu finden. Höchstens Unvollkommenheiten in der Wirkung der Wirtschaftskräfte konnten zur Erklärung herangezogen werden, welche vorübergehende Störungen verursachen.
Dementsprechend stammen auch die ersten Erklärungsversuche nicht aus dem Lager der klassischen Lehre, sondern von ihren Gegnern. Diese hatten allen Grund, das Krisenproblem ernst zu nehmen und es je eingehender zu erörtern, weil sie wohl erkannten, dass hieraus Anklagen gegen die Anschauungsweise der klassischen Nationalökonomie geschmiedet werden können.
So hat vor allem Lauderdale, ein scharfer Gegner der klassischen Lehre, gerade die von den Klassikern gepriesene freie Entfaltung der Wirtschaftskräfte als die Ursachen der Krisen hingestellt. Es trete hier nämlich - meinte Lauderdale - eine Überwucherung der Spartätigkeit ein, welche die Kapitalansammlung unverhältnismäßig gestalte, was zur Überproduktion, zur ungebührlichen Vermehrung der Güter führen müsse. Auch Owen sieht den Grund des Übels in der Überproduktion, welche er hauptsächlich aus dem technischen Fortschritt erklärt.
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Doch wenn auch die überwiegende Mehrzahl der Anhänger der klassischen Lehre in Verbindung mit der Lehre vom freien Wettbewerb die Krisen bloß als vorübergehende Unstimmigkeiten betrachtete, wie gleich zu zeigen sein wird, so darf doch nicht vergessen werden, dass diese Lehre keinesfalls mit jener optimistischen Betrachtung der Volkswirtschaft zusammenfällt, zu welcher sie die Harmonie-Ökonomik von Carey, sowie von Bastiat und anderen Franzosen entwickelten. Eine Naturlehre der Volkswirtschaft, so nannten wir die klassische Lehre, und diese bietet, wie wir wissen, keineswegs bloß freundliche Aspekte. Das Malthussche Bevölkerungsgesetz, die Ricardosche Lohntheorie sind Beispiele hierfür. So war es denn keineswegs unmöglich, auch im Rahmen dieser Auffassung Anknüpfungspunkte für die Erklärung der wirtschaftlichen Störungen zu finden. Malthus war es, der dies am meisten begriff und das Unharmonische im Wirtschaftsprozesse, wie es sich in seiner Bevölkerungslehre findet, auch im Zusammenwirken der Wirtschaftskräfte mit wachsamen Auge verfolgte.
Malthus erblickt den Grund der Disharmonie des Wirtschaftslebens darin, dass der menschliche Fortschritt, welcher die Fruchtbarkeit des Bodens, die Kapitalansammlung sowie die Verbesserung der Technik bewirkt, sich nicht harmonisch auf die Ganzheit der Gesellschaft verteilt. Die Kapitalansammlung wird durch die Ungleichheit der Einkommensverteilung stark gefördert, da ein großer Teil der Profite der Kapitalisierung zugeführt wird; dies fördert die Produktion weiter, ohne die Möglichkeit zu bieten, den Verbrauch der Güter mit ihrer zunehmenden Erzeugung Schritt halten zu lassen. So muss das Ergebnis sich in einer Übererzeugung äußern. Und zwar handelt es sich nach Malthus um eine allgemeine Übererzeugung in jenem Sinne, dass infolge übermäßiger Kapitalisierung von Einkommensteilen die Produktion stärker gefördert wird, als die Verbrauchsfähigkeit der breiten Bevölkerungsschichten zunimmt. Hiermit steht Malthus auch an der Schwelle jener Krisentheorie, welche die Lehre vom Unterverbrauch genannt wird.
Der Begriff der Übererzeugung enthält stets auch jenen des Unterverbrauches in sich. Übererzeugung heißt ja ein Überdimensionieren der Produktion im Verhältnis zum Verbrauch. Deshalb ist auch die Linie zwischen der Lehre von der Übererzeugung und dem Unterverbrauch schwer zu ziehen. Jede Theorie der Überproduktion ist bis zu einem gewissen Grade eine Unterkonsumtionslehre zugleich, denn sie beruht auch gleichzeitig auf der Annahme, dass ein Teil der Produktion vom Markte nicht aufgenommen werden kann.
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Im höchsten Maße trifft dies für die primitive Übererzeugungslehre zu, welche die Übererzeugung aus dem technischen Fortschritt ableitete, denn für sie ist die Freisetzung von Arbeitskräften infolge Umsichgreifens der arbeitssparenden Maschinen ein wesentlicher Bestandteil. Aus dieser Freisetzung folgt eine Verminderung der Aufnahmefähigkeit des Marktes. So bei Lauderdale und Owen.
Indem Malthus die Krisen auf Übererzeugung zurückführt, berücksichtigt er das Moment des Verbrauchs nicht weniger als jenes der Produktion, denn die Ursache für die Übererzeugung findet er in einer ungebührlichen Einschränkung des Verbrauches. Er weist darauf hin, dass nur ein Teil der Einkommen dem Ankaufe von Genussgütern dient, während ein anderer Teil der Einkommen erspart und so der Kapitalbildung zugeführt wird. Bei der Arbeiterklasse herrscht der Verbrauch des Einkommens vor, während bei den Kapitalisten ein erheblicher Teil des Einkommens nicht verbraucht, sondern kapitalisiert wird. So entsteht eine Unstimmigkeit zwischen Erzeugung und Verbrauch, denn die unverhältnismäßige Kapitalisierung der Einkommensteile der Unternehmerklasse erhöht die Produktionsfähigkeit ständig, während die Arbeiterklasse die zunehmende Warenmenge nicht aufzunehmen vermag. Wir stehen sonach nicht nur einer Überproduktion, sondern auch einem Unterverbrauche gegenüber.
Schon in der Lehre von Malthus liegt ein Zusammenhang der Krisenlehre mit der Einkommensverteilung. Würde nämlich das Einkommen der Arbeiter anstatt jenem der Kapitalisten steigen, so würde ein größerer Teil der Einkommen zum Ankauf von Genussgütern verwendet werden und es könne Absatz für die erzeugten Waren geschaffen werden. Ja die Zunahme der Produktion wäre auch langsamer, denn es würde nicht so viel Einkommen kapitalisiert, und so viel Kapital der Produktion zugeführt werden. Schon hierin liegt ein enger Zusammenhang mit der Einkommensverteilung, meint er, welche hauptsächlich aus der niedrigen Entlohnung der Arbeiter entstehen, seien die eigentliche Ursache der Krisen, denn die niedrige Entlohnung hindert die Arbeiter daran aus ihrem Lohne die zunehmende Menge an Waren aufnehmen zu können. So macht Sismondi unmittelbar die bestehenden Einkommensverteilung für die Krisen verantwortlich.
Der sozialistischen Lehre konnte dieser Gedankengang nur willkommen sein. Liegt ja im selben eine scharfe Anklage gegen die bestehende Ordnung des Kapitalismus.
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Schon Proudhon hat geltend gemacht, die Arbeiter können mit ihren niedrigen Löhnen jene Produkte nicht zurückkaufen, welche sie erzeugen, da deren Preis auch den Profit des Unternehmers in sich schließt. Robbertus muss auf Grund seiner Lehre von der fallenden Lohnquote zum selben Ergebnisse gelangen. Denn erhöht sich die Produktion mit fortschreitenden Kapitalismus, und nehmen die Arbeiter an der Steigerung des Wohlstandes infolge dieses Lohngesetzes nicht teil, so müssen Absatzstockungen eintreten, welche sich als Krisen fühlbar machen. Auch Marx musste ähnlich denken, wenn er auch gelegentlich die Unterkonsumtionslehre tadelt und auch in einer anderen Richtung die Lösung sucht. Es ist eben die Betonung des Zurückbleibens der Verbrauchsfähigkeit der Arbeiter infolge der Einkommensverhältnisse der kapitalistischen Wirtschaft von sozialistischen Gedankengang kaum zu trennen.
So bildet auch die Krisentheorie einen wesentlichen Bestandteil der Wirtschaftstheorie des wissenschaftlichen Sozialismus. Der Erschütterung, ja der Zusammenbruch der kapitalistischen Wirtschaftsverfassung wird nicht zum letzten Teil von jenen Erschütterungen erwartet, welche die Krisen verursachen.
Obzwar Marx, wie schon erwähnt, nicht bei einer einfachen Unterkonsumtionslehre stehen bleibt, so ist die sozialistische Krisentheorie doch auch weiterhin hauptsächlich auf die Unterkonsumtionslehre eingestellt. In dieser Richtung bewegen sich die Krisenerklärung von Kautsky und Rosa Luxemburg. Die Akkumulation des Kapitals und die fortschreitende Vermehrung des konstanten Kapitals setzt, in Verbindung mit dem technischen Fortschritt, in wachsendem Maße Arbeitskräfte frei, womit die industrielle Reservearmee anwächst und die Unabsetzbarkeit eines großen Teils des Produktionsergebnisses nach sich zieht. Nur ein Vorstoß in noch nicht kapitalistisch organisierte Gebiete, also eine wirtschaftliche Expansion, dann den hierdurch unvermeidlichen Zusammenbruch der kapitalistischen Ordnung hintanhalten. Auch Oppenheimer erklärt die Krisen aus der industriellen Reservearmee, doch sieht er die Quelle derselben in jener landwirtschaftlichen Bevölkerung, welche infolge Eindringenung des Kapitalismus in die Landwirtschaft freigesetzt wird.
Aber nicht nur der wissenschaftliche Sozialismus, sondern auch der Kathedersozialismus erblickt, wenn er die Theorie auch oft durch Herbeiziehung anderer Momente erweitert, eine Hauptquelle der Krisen im Unterverbrauch. Hierauf läuft auch die Theorie von J. Wolf hinaus, wenn er die Kapitalakkumulation als Krisenursache betrachtet, weil sie die Konsumtion einengt.